Wahrheit und Verletzung

Jeder erwartet vom anderen, speziell vom Partner, dass dieser ihm immer die Wahrheit erzählt. Erwarten wir diese wirklich, oder wollen wir Sie gar nicht hören. Ist die Wahrheit nicht viel zu verletzend? Ist die Wahrheit nicht manchmal gnadenlos. 

Du triffst Deine Freundin, 12 Wochen habt ihr euch nicht gesehen, du hast das Rauchen aufgehört und das Essen angefangen. Möchtest Du wirklich mit den Worten, was bist du fett geworden begrüßt werden. Ist nicht ein höfliches, dein Hautbild hat sich durch das Rauchen aufhören sehr verbessert, viel angenehmer?

Du lernst einen neuen Mann kennen. Er ist höflich, zuvorkommend, witzig, spirituell, großzügig, liebevoll und ein vollendeter Gentleman. Verzweifelt suchst Du nach einem Haken, aber da scheint keiner zu sein. Er erzählt von einer Lebenspartnerschaft, die er 26 Jahre lang hatte, die aber die letzten 15 Jahre nur noch unglücklich war und die er deshalb beendet hat. Nur aus finanziellen Gründen (gemeinsame Firma, gemeinsames Haus) sei man überhaupt noch manchmal zusammen. Du dichtest selbst hinzu, dass dies natürlich nur noch kurze Zeit so sein wird. 

Eines Tages bemerkst Du, dass seine Konferenzen und Auslandstermine alle immer in der Zeit von Freitag vormittag bis Sonntag Abend stattfinden, also genau in der Zeit, in der die vermeintliche Ex-Partnerin, die beruflich unter der Woche in einem anderen Bundesland lebt,  hier ist. Du willst es nicht wahrhaben, dass er in dieser Zeit leider nicht telefonieren kann, dass er keine emails schreiben kann, weil er keinen PC in der Nähe hat, dass er nicht mit dir sprechen kann, weil sonst der Geheimdienst mithört.

Aber langsam begreifst Du, dass alles gelogen war. Du sprichst ihn darauf an und erfährst, dass natürlich alles Wahrheit ist, seine Wahrheit. Die Frage ist, ob du genauso schöne 6 Wochen erlebt hättest, wenn er von Anfang an gesagt hätte: Ich bin seit 26 Jahren in einer Beziehung, sie schläft nicht mehr mit mir, ich wünsche mir hemmungslosen Sex und sonst gar nichts, wenn Du möchtest, können wir ruhig auf der Strasse spazieren gehen, wir sind ja schließlich 130 km von meinem zuhause entfernt.

Sicher wären deine 6 Wochen dann weniger prickelnd, weniger erotisch, weniger aufregend, weniger spannend aber doch viel ehrlicher verlaufen. Hättest Du dich darauf überhaupt eingelassen? Vielleicht, vielleicht auch nicht, aber Du hättest es selber entscheiden können und würdest Dir jetzt nicht so benutzt vorkommen. Also, versucht Eurem Gegenüber Ehrlichkeit abzuringen, selbst wenn diese manchmal gnadenlos ist............